Mittwoch, 11. November 2015

Was heißt sehen? Der Vorgang visueller Wahrnehmung, das Eindringen von Bildern in mich, ist zunächst ein körperlicher, physikalischer Prozess, der das Objekt des Sehens außen vor lässt. Die Frage nach dem, was gesehen wird, stellt sich weder für das Licht noch für das Auge, sondern wird erst von meinem Bewusstsein aufgeworfen. Sehen ist also nicht gleich Erkennen, geschweige denn bereits eine Interpretation des Gesehenen. Aber da ich als Bewusstsein stets in Bezug zu mir sehe (aus meiner Perspektive, vor dem Hintergrund meiner Erinnerung), entwickle ich Kategorien für die Gesamtheit an visuellem Eindruck, ich teile und ordne sie, belege sie mit Bedeutungen und reagiere auf sie.

Doch in dieser Beziehung geht mir das zu Sehende immer voraus, es transzendiert mein gesamtes Dasein völlig - ich bin in es hineingeboren worden und werde in ihm sterben. Das bedeutet, dass, als ich noch keine Begriffe hatte für die Schemen, Schatten, Farben und Formen, die auf mich eindrangen, sie sich ohne einen anderen Filter als den physikalischen meiner Augen und meiner Perspektive in mich hinein fortgesetzt, mich ausgeleuchtet und vollständig durchdrungen haben.

Nun versuche ich, diesen Prozess umzukehren und die Dinge wieder zu zersehen, das heißt sie wieder in den einförmigen Strom von Licht zurückzuverwandeln, aus dem sie sich speisen. Selbstverständlich gelingt das nicht oder zumindest nicht gänzlich. Aber ich spüre, wenn ich es versuche, dass in dieser Auflösungsbewegung der Dinge ihr "wahres" Dasein deutlicher wird, dass sie ihre Geschichte ablegen, um endlich völlig präsent zu sein, hier und jetzt. Im Übergang aus der Sphäre, in der sie gebraucht werden, um symbolischen Zwecken zu dienen (als Anthropomorphismen überall) tauchen sie in den nüchternen, klaren Bereich des Indexikalischen auf, in dem sie nichts mehr aussagen als sich selbst. Aber dann sehe ich, wie sie auch diesen Rand eines gedachten Beckens übersteigen und auslaufen ins... Nichts?

Wenn sie sich komplett geöffnet haben, gehen die Dinge ineinander über und lösen diesen Beckenrand mit sich auf. Nur innerhalb einer Welt von Begriffen hat dieser Rand einen Sinn und einen Ort, durch die Öffnung und Durchdringung meiner Kategorien verliert er seine Bedeutung. Dazu zählt auch die Kategorie der Zeit, weshalb die Auflösung meine Erinnerungen nicht auslöscht, sondern sie im doppelten Wortsinn aufhebt: Sie gehen in einer vierten Dimension der Entgrenzung (der zeitlichen, neben den drei räumlichen Dimensionen) ineinander über, indem die Zeit sich auflöst und sie erhalten ihren Anteil an der Realität - als Erinnerungen des Realen, das mich überschreitet und das keine Einteilungen hat.


Lächeln im Sommer,
Samstag, im Schatten liegend
den Freunden ein Platz.


(2013)

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