Montag, 21. Oktober 2013

Die größte Freiheit müsste die des Überflüssigen sein, denn nur dieser sieht sich nicht dem Anpassungsdruck ausgesetzt, welcher die Teilhabenden in ihre Rollen drückt, die sie zu erfüllen haben – um zu arbeiten, um zu funktionieren, um zu existieren in einer ihre Sicherheit garantierenden Form. Der Überflüssige fällt dabei aus allem heraus und durch alles hindurch; sein Dasein ist außerhalb des Sinns begründet. Insofern ist es für ihn auch vollkommen sinnlos, sich nach den Strukturen der ins System Eingespannten zu sehnen. Stattdessen obliegt es ihm, sich zu definieren, sich völlig selbst zu begründen, anstatt aus dem Spektrum ihm sowieso nicht zugänglicher Möglichkeiten zu wählen.
Ist dies eine Aufgabe, die zu lösen ist?

Der Überflüssige ist immer ein Anderer, ganz gleich, wo er herkommt und wer er ist. Er muss auch ein Anderer sein, da er sich ja unmöglich ins bestehende Sinnsystem integrieren lässt. Das bedeutet also, dass das System stets versuchen wird, an ihm vorbei zu existieren und zu funktionieren, er wiederum aber nur trotz des Systems leben kann. Das heißt nicht notwendigerweise, gegen das System aufzubegehren, es meint allerdings auch nicht, mit dem System leben zu müssen; das Leben des Überflüssigen entzieht sich im Prinzip einfach dem systemischen Strom. Es ist das Leben daneben und als solches gegenüber dem System nicht rechenschaftspflichtig, eigenverantwortlich und frei. Wer überflüssig ist, ist draußen.


(2013)

The greatest freedom must be the one of the redundant because he alone is not affected by the pressure of conformance that pushes all participants into their roles - to work, to function, to exist in a form that guarantees their security. The redundant falls off; his existence is founded outside of the meaning. For that reason it is meaningless for him to long for the structures of those who are restrained by the system. In fact he is asked to define himself, to justify himself completely instead of choosing options that are out of reach for him anyway.
Is this a problem that is to be solved?

The redundant is always the other, regardless where he comes from or who he is. He has to be the other, simply because it is impossible to integrate him into the existing system of meaning. That means the system will always try to exist and function past the redundant, but he himself can only live in spite of the system. This doesn't mean necessarily to revolt against the system nor does it mean having to live with the system; the life of the redundant in principle simply detracts itself from the systemic stream. It is life alongside and as such not accountable to the system, self dependent and free. Being redundant means being outside.

Sonntag, 20. Oktober 2013

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.


Weh mir, wo nehm' ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


Friedrich Hölderlin


(2013)

Samstag, 12. Oktober 2013

Der wichtigste Durchbruch besteht in der Aneignung des Ortes; der Ort bedeutet einerseits stets eine Beheimatung, andererseits erwächst aus ihm das Potential zur Veränderung, zur Transgression. Eine Welt, die ausschließlich in Besitzverhältnisse und die daraus resultierenden Funktionszusammenhänge von Orten zerfällt, bietet keinerlei Raum zur Überschreitung von Grenzen. In einer solchen Welt lebend, stellt allein die Ironie ein letztes Mittel zur - innerlichen - Befreiung dar. Allerdings muss diese Ironie, um wirksam zu sein, selbst den Prinzipien von Besitz und Funktion widersprechen! Andernfalls gerät sie zur bloßen Geste und wird unwirksam.

Die Frage dabei ist, woran man sich lehnt. Nutze ich die mir bekannten, aber unangenehmen Gegebenheiten, um mich in meinem Denken und Handeln auf sie zu stützen oder lasse ich mich in jene Lücke fallen, die sich fühlbar zwischen den Monolithen des Alltäglichen, den vermeintlich realistischen, auftut und die mich auf magische, geradezu vertraute Weise anzieht?


(2013)

Ich werde immer aufs Neue bestärkt in dem Eindruck, dass Leben ein trotzdem Leben ist - und dies unabhängig von den Umständen. Vielleicht ist es der Trotz, den das Leben nötiger hat als Sonne, Luft und Wasser; Aufbrechen, obwohl der Weg womöglich nicht zu gehen ist, aber dass einer ihn geht, war das nicht der Hintersinn der Veranstaltung, das erklärte aber niemals vereinbarte Ziel? Unter diesem Blickwinkel, indem jenem Weg von einem Ort zum anderen und eventuell über die Orte hinaus seine Haftung an Besitz und Funktion entzogen wird, in diesem Augenblick stellt sich wie automatisch die Frage nach der Triebfeder hinter dem Ganzen.

Und ist es ehrlich gesagt nicht eine äußerst negative Kraft, nämlich die Kraft der Negation des Nicht-Seins? Ich tue etwas, um nicht nichts zu tun und tue es außerdem so, dass es Sinn machen möge. Es möge den Bedingungen von Besitz und Funktion Genüge tun, der Logik jener Welt Rechnung tragen, in welche dieses Handeln hineingeboren wird. Aber ironischerweise sitzt das Lebendige gerade im Nichts, dessen unheimliche, verlockende Offenheit den Gegenpart bildet zur Affirmation des Bestehenden. Dahin führt uns Kierkegaard, der in der Ironie des Sokrates eine Umkehr der Verhältnisse erblickt: Indem Sokrates die Angst vor dem Tod überwindet, indem er darauf verweist, nichts über diesen zu wissen, lenkt er erst das Bewusstsein auf die Tatsache der Angst vor dem Leben.

"Der Ironiker hebt das Individuum aus der Unmittelbarkeit des Daseins heraus, dies ist das Befreiende, darnach aber läßt er es - ähnlich wie dies in der Sage dem Sarg Mohammeds widerfährt - in der Schwebe bleiben zwischen zwei Magneten, dem anziehenden und dem fortstoßenden Moment."
Søren Kierkegaard
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The most important breakthrough is the appropriation of the place; place means home on the one hand, on the other it implies that from the place grows the potential of change, of transgression. A world that only consists of tenures and the resulting functional relations delivers no room for transgressing boundaries. Living in such a world, only irony provides an instrument to achieve at least inner freedom. However this irony has to neglect the principles of tenure and function to work properly! Otherwise it becomes a mere, effectless gesture.

The question is on what you rely. Do I build my thoughts and actions on the familiar yet disagreeable conditions or do I let myself fall into this gap, dragging me in a magical, almost confidential way, opening between those quotidian monoliths, pretended to be realistic?

Again and again my impression is confirmed anew that living means living nonetheless - regardless of the circumstances. Maybe life is more in need of defiance than it is of sun, air and water; leaving though it is likely impossible to go the way but the fact alone that one goes, wasn't that the meaning of the whole event, the declared aim we just never agreed on? From this point of view, by taking this way's adhesion to tenure and function, in this very moment the question about the mainspring behind everything rises automatically.

And, to be honest, isn't it a very negative force, namely the force of negation of inexistence? What I do, I do it just because to avoid doing nothing and I do it in a way that it may be meaningful. It may serve justice to the conditions of tenure and function, to accommodate the logic of this world into which the action was born. But ironically the alive is housed in this nothingness that, with it's uncanny, enticing openness, plays the counterpart of existence's affirmation. This is where Kierkegaard, who sees an inversion of relations in Socrates' irony, leads us: By overcoming the fear of death and by remarking to know nothing about it, he guides consciousness to the fear of life.

"The ironist lifts the individual from the immediateness of existence, this is the release, but afterwards he lets it stay in suspence between two loadstones, the adducting and the repelling moment - like what happened to Mohammed's coffin in the legend."
Søren Kierkegaard

Sonntag, 6. Oktober 2013

Rückwärts leben, rückwärts lieben - ich komme von dort, deshalb kenne ich mich aus. Was ist die Vergangenheit nicht für ein sicherer und angenehmer Ort, wenn man sie nur ihrer Alltäglichkeit entkleidet. Die Banalität eines beliebig herausgegriffenen Tages, der in Erinnerung ist, sie wirkt doch noch heroisch vor dem unendlichen Hintergrund des Vergessenen. Ja, wenn es keine Mythen gäbe, keinen Glauben, was sollte dann noch ein Gegengewicht bilden zu den rohen, ungeheuren Brocken von Gedächtnis, die in mir ruhen. Alleine mit dem Vergangenen sein, das heißt alleine sein mit sich selbst.

Und so zeigt sich, dass aus der Liebe, die war, eine Art Güte geworden ist, eine Form von geronnenem Gefühl, das zum Zeichen von Liebe erklärt wird, eine milde Narbe, die Zeuge von gelebtem Leben ist. Rückwärts schauen, da dort leben unmöglich geworden ist. Wie kommt es, dass das nicht wehmütig macht? Vielleicht weil feststeht, dass dieses Gewesen-sein unhintergehbar bleibt. Kein Handel auf der Welt wird den Tausch dieses Gutes einfordern; es zu tauschen, hieße sich vertauschen und... verlieren. An wen sollte ich meine Vergangenheit verlieren?


(2011)

Und nun, von dort an geht der Weg weiter. Er nimmt mich mit sich fort, und wohin? Das ist die andere und womöglich sogar die noch hellere Seite meiner Gewissheit: Sie offenbart, dass das in der Vergangenheit Geschaute nur das Spiegelbild des Zukünftigen ist, nur ein Abglanz dessen, was ich allzeit in mir trage - meine allmähliche Auflösung in der Zeit. Mein Selbst. Es sind die Schritte einer angelegten und zur ängstlichen Freiheit bestimmten Existenz, die ich gehe. Aber ich gehe sie!

Was für eine Erlösung ist das Wissen um die Unveränderlichkeit meiner Vergangenheit! Kein Schatz, den ich dort erworben habe, kann mir genommen werden. Was für ein süßer Trost ist die Offenheit meiner Zukunft! Ich alleine bin es, der dorthin wachsen wird und dessen Aufgabe nichts Geringeres ist als die Verwirklichung meines Selbst. Und der gegenwärtige Augenblick, ist er nicht alles andere als ein Warten, wenn er gelebt wird?

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To live backwards, to love backwards - this is where I come from, therefore I am well versed in it. What a save and comfortable place is the past if you disrobe it of its prosaicness. The banality of a single day in memory, chosen arbitrarily, doesn't it seem to be heroic in front of the unlimited background of oblivion. Indeed, if there were no myths, no faith, what should be the counter weight to the raw, tremendous chunks of memory that rest inside me. To be alone with the past means being alone with yourself.

So it shows that the love which has been there has become a sort of benignity, a form of coagluated feeling that is a manifested sign of love, a gentle scar, a witness of lived life. To look backwards because living there has become impossible. How can it be that this does not cause any melancholy? Maybe because it is certain that you cannot go beyond this having-been. No deal in this world will ever request this property; exchanging it would mean exchanging - and loosing - your self. To whom could I lose my past?

Now from there the journey continues. It takes me away but where? That is the other and perhaps even brighter side of my certainty: It reveals that what I see in the past is only a mirror image of the future, a mere reflection of what I hold inside me for all time - my gradual disintegration in time. My self. These are the steps of an arranged existance that I take, predestined to be anxious. But I take them!

What a salvation is the knowledge of the unchangeable past! No treasure I have achieved there can be taken away from me. What a sweet solace is the openness of my future! Me alone, I will be the one growing there and my only task is nothing but the implementation of my own self. And the present moment, isn't it anything else but waiting if it is lived?